[Prev] [Next]


8. Zusammenfassung und Ausblick

8.1. Massenspektrensimulation

Im Rahmen dieser Arbeit wurde anfänglich die automatische Ableitung von Reaktivitäten für die im Massenspektrometer ablaufenden Fragmentierungen und Umlagerungen aus Elektronenstoßmassenspektren unter Verwendung der dazugehörigen Struktur untersucht. Für die verschiedenen Reaktionstypen wurde dann der Zusammenhang zwischen Struktur und Reaktivität in Form von Funktionen und neuronalen Netzen ermittelt. Das auf diese Weise gewonnene Wissen über die Prozesse im Spektrometer kann schließlich zur Simulation der Massenspektren neuer Verbindungen genutzt werden.

Dabei stellte sich heraus, daß die eingesetzte Repräsentation der chemischen Struktur, Bindungslisten, für die Beschreibung der Vorgänge in einem Massenspektrometer nicht ausreichen. Bindungslisten kodieren zum Beispiel die Bindungen in einem Benzolmolekül nach Lewis als alternierende Einfach- und Doppelbindungen. Diese Darstellung bringt zunächst die Schwierigkeit, daß vor jeder Reaktion alle mesomeren Grenzstrukturen erzeugt werden müssen, um zu allen möglichen Reaktionen zu gelangen. Speziell bei der Generierung dieser Grenzstrukturen hat sich ein weiteres Defizit der Bindungslisten ausgewirkt. Die Bindungsliste macht keine Angaben darüber, welche Orientierungen die einzelnen Orbitale besitzen. Betrachten wir dazu einen ionisierten Enolether in Abbildung 211.

Abbildung 211: Ionisierter Enolether in der Darstellung einer Bindungsliste.

In dieser Darstellung kann nicht festgestellt werden, ob nun das Radikal oder das freie Elektronenpaar mit dem -System der Doppelbindung konjugiert ist. Um zu allen richtigen mesomeren Strukturen einer Verbindung zu kommen, muß man alle möglichen Orientierungen zulassen. Gibt es mehrere mögliche Ausrichtungen der Atomorbitale und lokale Elektronenverschiebungen in der Darstellung der Struktur als Bindungsliste, was bei vielen Radikalkationen der Fall ist, öffnet man so aber auch den Weg, Grenzstrukturen" zu erzeugen, die nicht mesomer zueinander sind.

Trotz dieser Schwierigkeiten konnte gezeigt werden, daß es auf diesem Wege der automatischen Ableitung von Reaktivitäten für die Fragmentierungs- und Umlagerungsprozesse möglich ist, bei einer beschränkten Zahl von Verbindungsklassen Teile der Massenspektren inklusive der Intensitäten der Signale richtig vorherzusagen. Für wichtige Fragmentierungsprozesse, wie die induktive Spaltung, konnte jedoch keine Struktur-Reaktivitäts-Beziehung gefunden werden. Dies liegt an der für Radikalkationen unzureichenden Darstellung der chemischen Struktur als Bindungsliste, beschränkter Definitionsmöglichkeiten der Reaktionstypen (keine verzweigten Substrukturen) und daran, daß die Aktivierungsenergie der Ionen, die von der Entstehungsgeschichte des Kations abhängt, berücksichtigt werden konnte.

8.2. Neue Datenstruktur und Reaktionsvorhersage

Aus den in 8.1 genannten Gründen wurde begonnen, zusammen mit Frau S. Bauerschmidt (neue MO-orientierte, chemische Datenstruktur RICOS) und Frau L. Steinhauer (Lösung der Differentialgleichungen, neuronale Netze und Anschluß der Tcl-Regeln), ein neues Reaktionsvorhersageprogramm zu entwickeln, das diese Beschränkungen nicht mehr aufweist. Bei der Entwicklung von EROS7 wurden einige Module ergänzt, damit es neben der Massenspektrensimulation auch in einer Reihe anderer Bereiche eingesetzt werden kann, wie der Reaktionsvorhersage, von der auch sein Name abgeleitet ist: Erzeugung von Reaktionen für die Organische Synthese.

Mit EROS7 konnte ein System geschaffen werden, das nicht nur organische und metallorganische Verbindungen sowie Radikalkationen behandeln, sondern diese auch unter verschiedenen Reaktionsführungen umsetzen kann. Hierzu wurde das Konzept der Reaktoren und Phasen eingeführt.

EROS7 ist ein Expertensystem, das die verschiedenartigsten Reaktionsvorhersagen ausführen kann. Welche dies sind und wie sie im einzelnen geschehen, wird in der extern zum System liegenden Regeldatei festgelegt. Dazu gehören die Beschreibungen der Reaktionstypen mit ihren Bewertungsfunktionen zur Ermittlung der Reaktivität der erzeugten Reaktionen sowie die Zahl und die Arten der Phasen und Reaktoren. Mit den verschiedenen Einstellung lassen sich so sowohl großtechnisch durchgeführte (kontinuierliche Zuführung der Reaktanden) als auch Synthesen im Labormaßstab simulieren.

8.3. Arten der Reaktionsführung

Zunächst sollen die Möglichkeiten der verschiedenen Reaktionsführungen für Prozesse im Labor und für industrielle Chargenprozesse näher betrachtet werden. Chargenprozesse werden zur Herstellung von Substanzen in kleinen Mengen verwendet, wie es für die meisten Medikamente zutrifft. Für all diese Synthesen gilt, daß eine bestimmte Menge der Ausgangssubstanzen eingesetzt wird, aber während der Reaktion weder weitere Ausgangsmaterialien hinzugefügt, noch Produkte entnommen werden. Die Reaktion findet dabei in einem Rührkessel statt, der den Dreihalskolben, das Schlenkrohr oder den industriellen Reaktionskessel symbolisiert. In ihm werden die Edukte ständig vermischt, wobei jede der sich im Kessel befindlichen Verbindungen mit einer anderen reagieren kann. Alternativ dazu ist es auch möglich, die Reaktionsgenerierung auf Reaktionen erster und pseudoerster Ordnung zu beschränken. Diese Art der Reaktionsführung wird eingesetzt um den Abbau von Chemikalien in der Umwelt oder die Metabolisierung von Arzneimitteln vorherzusagen.

Neben der Simulation der entstehenden Strukturen kann EROS7 aber auch die Konzentrationsverläufe der einzelnen Komponenten bestimmen. Hierzu werden die Geschwindigkeitskonstanten für die erzeugten Reaktionen benötigt. Sie können, abhängig von den physikochemischen Eigenschaften der Reaktanden, in den Regeln bestimmt werden. Die Zuordnung der Eigenschaften der Edukte und Produkte zur Reaktivität der Reaktion kann dabei aus einer Konstanten, einer mathematischen Funktion oder dem Aufruf eines neuronalen Netzes bestehen. Als Netztypen stehen das Backpropagationnetz, das Kohonennetz und das Counterpropagationnetz zur Verfügung. Es können Reaktionen erster, pseudoerster und zweiter Ordnung behandeltet werden. Für die Vorhersage enzymkatalysierter Reaktionen besteht überdies die Möglichkeit, ein kinetisches Verhalten der Reaktion nach Michaelis-Menten oder nullter Ordnung anzunehmen. All dies kann für einen, aber auch für mehrere Phasen simuliert werden. Um den Austausch zwischen den Phasen berücksichtigen zu können, werden zu den Geschwindigkeitskonstanten der Reaktionen auch Werte für die Menge des Stoffübergangs von einer in eine andere Phase benötigt. So können beispielsweise auch die verschiedenen Kompartimente einer Pharmakokinetik formuliert werden. Es kann dadurch die Absorption des Medikaments ins Blut, die Speicherung im Gewebe, die Ausscheidung und die Verfügbarkeit am Wirkort simuliert werden. Arzneimittel werden meist nicht als Infusion verabreicht, sondern in Form von Tablette, Dragees und Spritzen. Auch die Konzentrationsverläufe bei einer periodischen und frei wählbaren Dosierungsweise, inklusive der Mehrfachdosierung zu einem Zeitpunkt, können mit EROS7 vorhergesagt werden.

Bei der Infusion wird die Arznei im Gegensatz zur meistgenutzten Darreichungsform der Tablette oder des Dragees dem Körper des Patienten kontinuierlich zugeführt und die Abbauprodukte und möglicherweise auch Anteile des Medikaments verlassen auch wieder den Organismus. Auch großtechnisch werden Synthesen zur Produktion von Verbindungen im Maßstab vieler Tonnen pro Jahr kontinuierlich durchgeführt. Man erspart sich so die Todzeiten der Reaktionsbehälter, in denen sie entleert und neu befüllt werden. Zum Einsatz kommen hierfür Rührkessel, denen ständig neue Ausgangsmaterialien zugeführt und ein Teil der Reaktionsmischung entnommen wird. Für ein anderes Verweilzeitverhalten der Edukte im Reaktionsgefäß kommen auch das Reaktionsrohr und die Rührkesselkaskade zum Einsatz. All diese Arten der Reaktionsführung können mit EROS7 simuliert werden.

Ein weiteres Gebiet, in dem EROS7 eingesetzt werden kann, ist die kombinatorische Chemie. Hierfür spielen die kinetischen Betrachtungen üblicherweise keine Rolle. Ohne Hilfe des Computer ist es mühsam, alle Verbindungen vollständig zu bestimmen, die entstehen, wenn je eine der Verbindungen aus mehreren Sätzen miteinander reagieren. Hierbei können schnell Tausende von neuen Substanzen gebildet werden. Die Arbeit, ihre Strukturen anzugeben, kann von EROS7 abgenommen werden.

Schließlich ist es auch möglich mit EROS7 Massenspektren zu simulieren. Die Regeln, die für die in dieser Arbeit gezeigten, simulierten Massenspektren verwendet wurden, haben jedoch einen sehr begrenzten Einsatzbereich. Für die Nutzung von EROS7 zur Vorhersage von Massenspektren müßten diese Regeln stark verbessert werden.

Jede der erwähnten Vorhersagen kann alleine eingesetzt oder auch mit einer anderen kombiniert werden. So ist es möglich die Massenspektren aller bei einer normalen oder auch kombinatorischen Synthese entstehenden Verbindung zu simulieren.

Im Kapitel 7 dieser Arbeit konnten hierfür einige Beispiele gezeigt werden. In Zukunft werden diesen noch viele hinzugefügt werden, die die breiten Einsatzmöglichkeiten von EROS7 zeigen werden. Auch die Umkehrung der Reaktionsvorhersage - die Syntheseplanung - ist hierbei nicht ausgeschlossen.



[Prev] [Next]


robert(at)robert-hoellering.de
Copyright © 1998, Höllering Universität Erlangen-Nürnberg. All rights reserved.